Stimmigkeit in Bewegung – Vorüberlegungen zu einer tätigkeitstheoretischen Didaktik tanzkünstlerischer Praxis

138

Abstract

Woran zeigt sich das Gelingen einer Tanzbewegung? Die Frage mag trivial erschei-nen, gibt der Tanz doch typischerweise bestimmte Techniken als Idealbewegungen vor, die als Maß für ein Gelingen gelten können. Was aber, wenn der Tanz gerade keine bestimmten Bewegungsvollzüge zum Abgleich vorgibt? Wenn prinzipiell jede Bewegung Tanz sein kann? So definiert Pina Bausch den Tanz wie folgt: „Es kann fast alles Tanz sein. Es hat mit einem bestimmten Bewusstsein, mit einer bestimmten inneren, körperlichen Haltung, mit einer ganz großen Genauigkeit zu tun“ (Bausch, zitiert nach Servos 2003, 237). Wie lässt sich das Maß des Gelingens für diesen Fall konkretisieren? Worauf bezieht sich die von Bausch betonte Genauigkeit, wenn keine bestimmten Tanzbewegungen – Techniken – vorgegeben sind? Und vor allem: Was hängt davon – vom Gelingen einer Tanzbewegung – im Kontext didaktischer Überlegungen ab? Die Reflexion des Gelingens von Tanzbewegung ist zentral für bewegungskünstlerische Bildungsprozesse und für eine Didaktik des Tanzes, die den Tanz selbst zum allesentscheidenden Gegenstand von Bil-dungsprozessen setzt. Wesentlich ist, dass die Frage der Gelingensbestimmung im Tanz ganz entscheidend davon abhängt, welches theoretische Vorverständnis von Bewegung und Tanzbewegung je schon vorgegeben ist. Zentral ist hier das Wie der Konzipierung des Verhältnisses von körperlichem Bewegungsvollzug und geistigem Tun. Die These des Beitrags ist, dass mit einer tätigkeitstheoretischen Konzeptuali-sierung von Bewegung und Tanzbewegung eine Möglichkeit gegeben ist, Gelingen von Tanzbewegung zum Einen an der Bewegung selbst und zugleich jenseits eines reinen Geschmacksurteils festzumachen und theoretisch zu präzisieren. Die Theorie der Tätigkeit setzt menschliches Tun als ein logisches Zugleich von körperlichem Bewegungsvollzug und der Bedeutung dieses Bewegungsvollzugs. Dies widerspricht einer Auffassung, welche die Bewegung mit dem physischen Vollzug der Bewegung gleichgesetzt. Genauigkeit und Gelingen von Bewegung lassen sich mit einer tätigkeitstheoretischen Konzeption in Bezug zur sich körperlich manifestierenden Bedeutung – dem semantischen Gehalt – der Bewegung fassen. Hierin liegen die Möglichkeit und der Gewinn einer tätigkeitstheoretischen Konzeptualisierung menschlicher Bewegung bzw. tänzerischer Bewegung als Kern jedes tanzunterrichtlichen Geschehens. Mit der Setzung eines logischen Zugleichs von Bewegung und Bedeutung bezieht sich ein Gelingen von Tanzbewegung auf die Stimmigkeit des Verhältnisses von Bewegung und Bedeutung. Es geht für den Tanzenden konkret darum zu reflektieren, ob – und falls ja – inwiefern und inwieweit sich die Bedeutung der Bewegung im körperlichen Vollzug der Bewegung realisiert. Diese Reflexion bildet den Kern tänzerischer Bildungsprozesse und ist zentraler Bezugspunkt tanzdidaktischer Konzepte, welche den Tanz als Medium und nicht als bloßes Mittel von Bildungsprozessen auffassen.

General Information

Article type: scientific article

For citation: Temme D. Stimmigkeit in Bewegung – Vorüberlegungen zu einer tätigkeitstheoretischen Didaktik tanzkünstlerischer Praxis [Elektronnyi resurs]. Tätigkeitstheorie: E-Journal for Activity Theoretical Research in Germany, 2019. Vol. 15, no. 1, pp. 75–100. (In Russ., аbstr. in Engl.)

A Part of Article

Wir sind Zuschauer eines Tanzstücks – beispielsweise als Teil eines Publikums im Theater. Aus dem Fluss der Bewegungen sticht eine der Bewegungen heraus. Sie erscheint als besonders gelungen.

References

  1. Abraham, A. & Hanft, K. (1986): Maja Lex. Ein Portrait der Tänzerin, Choreographin und Pädagogin. Hürth-Hermülheim: Stohrer-Druck.
  2. Benjamin, W. (1977): Programm eines proletarischen Kindertheaters. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 2.2. Frankfurt: Suhrkamp, 763-769.
  3. Boxberger, E. (2010): Respekt und Risiko. Barbara Passow im Gespräch mit Edith Boxberger. In: Diehl, I. & Lampert, F. (Hrsg.): Tanztechniken 2010. Tanzplan Deutschland. Leipzig: Henschel, 100-103.
  4. Diehl, I. & Lampert, F. (Hrsg.) (2011): Tanztechniken 2010 – Tanzplan Deutschland. Leipzig: Henschel.
  5. Feldenkrais, Moshé (1957 1992): Das Starke Selbst. Anleitung zur Spontanität. Frankfurt: Suhrkamp.
  6. Fischer, M. (2010): Vom Sinn des Tanzes oder: Zum Problem des Verstehens von Tanz. In: Grossheim, M. & Volke, S. (Hrsg.): Gefühl, Geste, Gesicht. Zur Phänomenologie des Ausdrucks. Freiburg: Karl Alber, 234-260.
  7. Fleischle-Braun, C. (2010): Barbara Passow – Jooss-Leeder Technik. Konzept und Ideologie. In: Diehl, I. & Lampert, F. (Hrsg.): Tanztechniken 2010. Tanzplan Deutschland. Leipzig: Henschel, 114-116.
  8. Fleische-Braun, C.; Obermaier, K. & Temme, D. (2017): Der Moderne Tanz als immaterielles Kulturerbe? In: Fleische-Braun, C.; Obermaier, K. & Temme, D. (Hrsg.): Zum immateriellen Kulturerbe des Modernen Tanzes, Konzepte – Konkretisierungen – Perspektiven. Bielefeld: Transcript, 7-28.
  9. Hentschel, U. (Hrsg.) (2017): Theater lehren. Didaktik probieren. Strasburg (Uckermark): Schibri.
  10. Huschka, S. (2002): Moderner Tanz. Konzepte – Stile – Utopien. Reinbek: Rowohlts Enzyklopädie.
  11. Hüster, W. (2011): Schüttel kritisch deinen Speck. In: Frankfurter Allgemeine, Feuilleton vom 22.8.2011. URL: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buehne-und-konzert/berliner-festival-tanz-im-augustschuettel-kritisch-deinen-speck-11113101.html [05.01.2017].
  12. Hüster, W. (2017): Anne Teresa De Keersmaeker u.a. tanzen Bachs Cellosuiten im Rahmen der Ruhrtri-ennale. In: Deutschlandradio vom 26.08.2017. URL: http://www.lastradiopoets.net/ archi-ves/76599. [13.11.2017].
  13. Klinge, Antje (2015): Was heißt hier Vermittlung? Ein-Blick in die tanzkulturelle Bildungspraxis. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE. URL: https://www.kubi-online.de/artikel/was-heisst-hiervermittlung-blick-tanzkulturelle-bildungspraxis [26.09.2018].
  14. Kirchner, B. (1984): „Gutes Theater ganz anderer Art.“ In: Ballett international/ Tanz aktuell, 8, 7-9.
  15. Leont'ev, A.N. (2012): Tätigkeit – Bewusstsein – Persönlichkeit. (Hrsg. v. G. Rückriem, übers. v. E. Hoffmann). Berlin: Lehmanns Media.
  16. Nachbar, M. (2005): Ist der zeitgenössische Tanz noch zu retten? Drei unbeantwortete Briefe von Martin Nachbar an Wiebke Hüsster. In: Sarma. Laboratory for discursive practices and expanded publication. URL: http://sarma.be/docs/967 [01.01.2017].
  17. Neuber, N. (2006): Zwischen Beliebigkeit und Dirigismus – Didaktische Anmerkungen zur ästhetischen Bewegungserziehung. URL: https://www.uni-muenster.de/imperia/md/content/ sportwissen-schaft/ sportdidaktik2/ vortrag_ sthetische_ bewegungserziehung_ bielefeld_ 15_ 12_ 06.pdf [26.10.2018].
  18. Schürmann, V. (2008). Reflexion und Wiederholung. Mit einem Ausblick auf ›Rhythmus‹. In: Bockrath,
  19. F.; Boschert, B. & Franke, E. (Hrsg.): Körperliche Erkenntnis. Formen reflexiver Erfahrung. Bielefeld: Transcript, 53-72.
  20. Servos, N. (2003): Pina Bausch Tanztheater. München: K. Kieser Verlag.
  21. Servos, N. (2007): Was der Körper erinnert – Repertoirepflege bei Pina Bausch. In: Gehm, S.; Husemann, P. & Wilcke, H.v. (Hrsg.): Wissen in Bewegung. Perspektiven der künstlerischen und wissen-schaftlichen Forschung im Tanz. Bielefeld: transcript, 193-199.
  22. Staude, S. (2015): Hängender Kopf, runder Rücken. In Frankfurter Rundschau. URL: https://www.fr.de/kultur/theater/haengender-kopf-runder-ruecken-11680985.html [13.01.2019].
  23. Steinberg, C.; Konowalczyk ,S.; Pürgstaller, E.; Hardt, Y.; Neuber, N. & Stern, M. (2018). Facetten Kultureller Bildung im Medium „Tanz und Bewegungstheater“ – Eine empirische Studie. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE. URL: https://www.kubi-online.de/artikel/facetten-kultureller-bildung-mediumtanz-bewegungstheater-empirische-studie [14.06.2019].
  24. Temme, D. (2015): Menschliche Bewegung als Tätigkeit: Zur Irritation fragloser Gewissheiten. Berlin: Lehmanns Media.
  25. Temme, D. (2017). Auf der Suche nach dem Maß – Was ist eine gute und richtige Tanzbewegung? In:
  26. Fleische-Braun, C.; Obermaier, K. & Temme, D. (Hrsg.): Zum immateriellen Kulturerbe des Moder-nen Tanzes, Konzepte – Konkretisierungen – Perspektiven. Bielefeld: Transcript, 241-264.
  27. Thurner, C. (2009): Bewegte Körper – beredete Seelen. Bielefeld: Transcript.
  28. Vygotskij, L.S. (2002). Denken und Sprechen. Herausgegeben und aus dem Russischen übersetzt von Joachim Lompscher und Georg Rückriem. Weinheim und Basel: Beltz.
  29. Westphal, K. (2018): Die Kunst, in Bildungskontexten künstlerisch tätig zu sein: Neue Formen des Ler-nens und Bildens? In KULTURELLE BILDUNG ONLINE. URL: https://www.kubi-online.de/ arti-kel/kunst-bildungskontexten-kuenstlerisch-taetig-sein-neue-formen-des-lernens-bildens [14.06.2019].

Information About the Authors

Denise Temme, Professor of Sports Science, Teaches Dance and Movement Culture, German sport University in Cologne, Dancer and Choreographer of the "POGOensemble"

Metrics

Views

Total: 264
Previous month: 6
Current month: 0

Downloads

Total: 138
Previous month: 3
Current month: 0